Schulseelsorge „outdoor“
Ich nenne sie mal Hannah. Die Schülerin Hannah und ich treffen uns am vereinbarten Ort außerhalb des Schulgeländes. Es ist eiskalt und mir kommen erste Zweifel. War es nicht doch fahrlässig, Schulseelsorge „outdoor“ anzubieten?
Die Außentemperaturen lachen meinem Ansatz Hohn, dass durch das Gehen im Freien erstarrte Gedanken ins Fließen und Worte leichter über die Lippen kommen. Ich selbst justiere beim zweiten Termin das Setting nach: Ich trage einen neuen Daunenmantel; meine Gesprächspartnerin scheint hingegen mein Kälteproblem ohnehin nicht zu teilen. Ich erfahre da am eigenen Leib, was eine banale, aber extrem wichtige Erkenntnis für mich ist und ich mir hinter die Ohren schreibe: Jeder Mensch nimmt einen Sachverhalt unterschiedlich wahr und bewertet ihn anders – das macht Ratschläge und Kommentare („So kalt ist es doch gar nicht!“), so wohlmeinend sie sein mögen, oft so wenig hilfreich: „Danke für den Hinweis – und für das Gespräch!“
„Was kann ich für Dich tun?“ lautet daher meist meine Einstiegsfrage, auf die ich immer wieder zurückkomme, um mich zu versichern: Was ist denn eigentlich das Anliegen meines Gegenüber? Und was mein Auftrag im Gespräch? „Arbeite nie ohne Auftragsklärung!“ lautete eine der Grundregeln, die uns in der Ausbildung zu Schulseelsorgerinnen im Religionspädagogischen Zentrum in Heilsbronn eingeschärft worden war. Und ich nehme sie mir zu Herzen.
Der erste Schritt
Wer es geschafft hat, mich um einen Termin zu bitten, hat womöglich schon die größte Hürde genommen. Meist sind es Personen, die mich bereits als Lehrkraft kennengelernt und auf diese Weise abchecken konnten: Ist die kompetent? Und vor allem: Ist sie vertrauenswürdig? Was mich in Erstaunen versetzt, ist, wie genau die jungen Menschen ihre Lage umreißen können und wie differenziert die meisten bereits ihre Rolle z.B. im Familiensystem oder Klassenverband reflektiert haben. Für mich heißt es da erst einmal: Dasein, eine zugewandte Haltung einnehmen und wertungsfrei zuhören. Manch einer sucht und braucht auch nur das: ein offenes Ohr, sich den Frust von der Seele reden können, ohne gleich als Jammerlappen oder Weichei diskreditiert oder noch schlimmer: beschämt zu werden. Ich selbst bin überrascht, dass dieses wertungsfreie Zuhören mir in der Rolle als Schulseelsorgerin außerhalb des Schulterritoriums um so vieles leichter fällt. Wenngleich die meisten kurzen Gespräche klassisch zwischen „Tür und Angel“ oder auf dem Flur stattfinden, bin ich froh über meine Entscheidung, die „echten“ Termine nach draußen verlegt zu haben.
Die Déformation professionelle des Lehrers: Belehren
Als Lehrerin ist man doch sehr darauf geeicht, zu einer einheitlichen, der „Musterlösung“ zu gelangen und auch die Schüler und Schülerinnen dorthin zu führen. Und zwar zügig, ohne zeitraubende Umwege und frustrierende Sackgassen! Das hehre Ideal der inneren Differenzierung eines Klassenverbandes, das dem Individuum gerecht werden soll, kollidiert zumeist mit Lehrplanumfängen und nicht ausreichenden zeitlichen und / oder persönlichen Ressourcen. Und schließlich fordert unser Klientel in den Klassenzimmern selbst ein, ihnen den „richtigen“ Weg zu weisen oder zumindest einen Leitfaden an die Hand zu bekommen, für was auch immer. Genau dieser Versuchung versuche ich in der Begegnung als Schulseelsorgerin mit einem Rat suchenden, ja einer Rat einfordernden Gesprächspartnerin zu wider-stehen. Und die Versuchung ist wahrlich groß, zumal eine Déformation professionelle es von uns Lehrern ja leider tatsächlich ist, andere gerne zu belehren. Das befriedigt zwar kurzfristig beide Seiten ungemein – nur bringt dies keine nachhaltige, meint: zu meinem Gesprächspartner passende Lösung.
Ressourcen und Lösungsfindung
Wichtig ist mir dabei, dass Hannah und jeder andere Gesprächspartner begreift und akzeptiert: Die Lösung muss ich selber finden und sie schlummert genauso bereits in mir, wie alle Ressourcen, die mir bisher geholfen haben, zu „überleben“. Ein Wunder bewirkt dabei oft, den Blick meines Gegenübers auf das zu lenken, was er kann, was eh schon gut klappt oder was sie tagtäglich erfolgreich meistert usw. Als besonders hilfreich hat sich zudem bewährt, erst mal phantasieren zu lassen: Wie sähe denn die Situation für Dich aus – wenn ein Wunder geschähe? Diese Utopie kann eine enorme Anziehungskraft entfalten und motivierend wirken, die ersten Schritte zu unternehmen. Denn die muss man leider selber tun. Eine gute Fee, die mit einem Schnips das Paradies herbeizaubert, haben die wenigsten in ihrem Leben an der Seite. Erstaunlicherweise wissen aber die meisten sehr genau, was zu unternehmen ist. Nur leider sind da halt fast immer die lieben Mitmenschen involviert oder gar im Weg.
Durchspielen im Wortsinne
In der Regel scheuen Hannah, ja eigentlich wir alle, deshalb die ersten Schritte, weil wir fürchten, dass alles komplett schief geht, ja ein Gespräch womöglich noch alles schlimmer macht: Die Eltern werden ausrasten, wenn ich das vorbringe! Der Partner sich von mir abwenden, wenn ich mit so was daherkomme! Nun, sage ich dann zu Hannah: „Dann lass uns das Gespräch mal proben! Wenn es in der Generalprobe gut geht und sich gut anfühlt, wird auch die Premiere gelingen.“ Das Rollenspiel hat sich dabei als erstaunlich genaue Methode bewährt, zu überprüfen, ob der Lösungsansatz stimmig ist.
Ausblick
Gerne würde ich mit Hannah und neuen Gesprächspartnern meine Tätigkeit als Schulseelsorgerin fortsetzen. Für mich waren die Erfahrungen, die ich bei Walk & Talk sammeln durfte, ungemein bereichernd und hilfreich auch für mein Wirken als Lehrerin. Selten habe ich zudem mein berufliches Engagement als so sinnhaft erlebt wie während dieser Gesprächsspaziergänge. Sowohl die aufwendige Ausbildung als auch die zeitfressende Entwicklung des Projektes Walk & Talk bereue ich daher nicht. Ob ich das Angebot im gleichen Umfang in diesem Schuljahr fortsetzen kann, hängt freilich von meinen Ressourcen ab –und die wiederum auch von den schulischen Rahmenbedingungen. Mein Wunsch, dass meine Schule Walk & Talk unterstützt und mir etwas Zeit dafür schenkt, ist tatsächlich erhört worden. So muss ich auf der Suche nach Hannahs Ressourcen nicht mehr ganz so viel Angst um meine eigenen haben.
Julia Gais, OStRin
Audio-Datei: Thomas Eckerl im Gespräch mit Julia Gais